Literatur

Günter Eich:
Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man aus euerem Mund nicht erwartet!
Seid unbequem, seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt!

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SABETH

1. Kapitel  DIE ERZÄHLUNG DER LEHRERIN
2. Kapitel  DIE ERZÄHLUNG DER FRAU FORTNER
3. Kapitel  DIE ERZÄHLUNG DES KINDES ELISABETH
4. Kapitel  DIE SCHLAFLOSE NACHT DER LEHRERIN
5. Kapitel  GESPRÄCH MIT SABETH
6. Kapitel EIN FOTOGRAFIERTES GESPRÄCH
7. Kapitel SABETHS TOD
8. Kapitel EIN BEWEIS FÜR SABETHS EXISTENZ
9. Kapitel EPILOG


 

Viertes Kapitel

DIE SCHLAFLOSE NACHT DER LEHRERIN

LEHRERIN: Als ich an diesem Abend vom Fortnerhof ins Reiskirchner Schulhaus zurückkehrte, war ich so verwirrt, von den unglaubwürdigen Erzählungen, daß ich kein anderes Bedürfnis hatte als zu schlafen und erst einmal alles Zu vergessen. Am nächsten Morgen konnte man es aus der Erinnerung heraufholen und in eine vernünftige Ordnung bringen. Ich horchte, bevor ich in mein Zimmer ging, zur Wohnung des Schulleiters hinüber, aber dort war alles still. Wahrscheinlich war Herr Woturba in die Gastwirtschat gegangen oder er scherzte mit der hübschen Magd des Krämers. Beides war schlimm, besonders das zweite. Doch lenkten mich heute andere Gedanken ab, und ich war nicht so traurig wie sonst an meinen einsamen Abenden. Ich ging, ohne gegessen Zu haben, gleich ins Bett und löschte das Licht. Aber meine Hoffnung, ich würde gleich einschlafen, betrog mich. Die Unruhe, etwas versäumt zu haben, quälte mich. Was hatte ich versäumt?. Es war nicht meine Schuld, daß ich erst heute von Sabeth erfahren hatte. Es war auch nicht meine Schuld, daß er mir nicht länger als einen Augenblick zu Gesicht gekommen war. Ich mußte morgen wieder zum Fortnerhof gehen und versuchen, den Raben zu sehen und mit ihm zu spreche. Viel schlimmer war das andere: daß ich ihn in einer Situation traf, die ihn wahrscheinlich uninteressanter machte, als er früher gewesen war. Von diesem Früheren mußte ich mehr erfahren, ich mußte ihn selbst danach fragen. Das hatten die Fortners unbegreiflicherweise versäumt. Aber hatten sie es wirklich versäumt? Vieles deutete darauf hin, daß Sabeth wohl das Sprechen gelernt, aber die wichtigen Antworten vergessen hatte. Man mußte von diesem kostbaren Wissen zu retten suchen, was noch zu retten war. Nein, alles konnte noch nicht verloren sein. Und ich rief mir ins Gedächtnis zurück, was man mir über den furchtbaren Tag in Sabeths Leben erzählt hatte. Eines Tages also kam er ins Haus zu Frau Fortner. Die Tür öffnet sich knarrend.

BÄUERIN: Sabeth?
SABETH:
Sie sind fort, hörst du, sie sind fort!
BÄUERIN:
Wer ist fort?
SABETH:
Die anderen.
BÄUERIN:
Die Raben?
SABETH:
Sie sind fort.
BÄUERIN:
Wieso sind sie fort? Wohin?
SABETH:
Ich weiß es nicht. Ich habe sie gesucht. Aber ich finde sie nicht mehr.
BÄUERIN:
Sabeth, was redest du! Sie werden ein bißchen weiter weg geflogen sein!
SABETH:
Dann wären sie nicht fort.
BÄUERIN:
Ich verstehe dich nicht. Das ist sicher nichts Neues für dich. Du wirst sie schon öfter haben suchen müssen.
SABETH:
Ich habe sie nie suchen müssen. Auch wenn sie weit weg waren, ich wußte immer, wo sie sind. Nein, tröste mich nicht. Ich weiß, daß sie fort sind. Ich erkenne es ja eben daran, daß ich sie suche. Ich suche sie nicht nur, weil sie fort sind, sondern sie sind auch fort, weil ich sie suche. Ich habe keine Verbindung mehr mit ihnen, plötzlich ist alles abgerissen, und nun fällt mir ein, daß ich sie suchen müßte. Oh, ich kannte dies Wort nicht, jetzt lerne ich es: Suchen. Es ist ein trauriges und vergebliches Wort, das ich gelernt habe.
BÄUERIN:
Du machst dir zuviel Gedanken, Sabeth. Sie werden wiederkommen.
SABETH:
Das Furchtbare ist aber dies, daß sie vielleicht noch da sind, und ich weiß es nicht.
BÄUERIN:
Wenn sie noch da sind, dann ist doch alles gut.
SABETH:
Und ich weiß es nicht. Ich kann nur über die Felder fliegen und über die Baumkronen und rufen: Brüder, wo seid ihr? Ich habe nur noch den Schrei der Sprache, die ich gelernt habe, aber sie vernehmen ihn nicht, sie haben andere Ohren, und ich bin ihnen so unerreichbar geworden wie sie für mich.
BÄUERIN:
Dann hast du Augen, scharfe Augen hast du.
SABETH:
Die schärfsten nützen mir nichts. Meine Brüder sind fort und haben mich zurückgelassen, sie haben mich ausgestoßen, ich hin wertlos für sie. Ich bin kein Rabe mehr, ich bin nichts.
BÄUERIN:
Oh, Sabeth, Sabeth, warum bist du kein Mensch!
SABETH:
Ich habe eure Sprache gelernt. Ich bin kein Rabe mehr und bin kein Mensch geworden. Sieh, ich habe ein schwarzes Gefieder und einen Schnabel und Krallenfüße. Das blieb mir vom Raben. Aber ich habe noch etwas anderes und das habe ich mit euch gemeinsam: Seit heute, seitdem ich gesucht habe, habe ich Angst.
BÄUERIN:
Nein, Sabeth, hab keine Angst! Wenn deine Brüder fort sind, bleibe bei uns. Wir lieben dich.
SABETH:
Lieben? Ja, ihr könnt lieben. Ich glaube, das hat mich verführt, zu euch zu kommen. Oh, ihr armen herrlichen Menschen, die ihr lieben könnt!

LEHRERIN: Konnte man nach diesem Gespräch viel Hoffnung haben? Ich meinte eigentlich doch. Gut, die Verbindung war abgerissen, wie Sabeth sagte. Aber damit kennzeichnete er schließlich nur seine eigene traurige Lage. Es war damit noch nicht gesagt, daß es unmöglich geworden war, wissenschaftlich Bedeutsames festzustellen. Die wichtigste Frage vor allem mußte schleunigst beantwortet werden: Wo kamen die Raben her? Waren es Bewohner anderer Welten, des Planeten Mars zum Beispiel? Wenn es so oder ähnlich war, wie waren sie dann hierher gekommen und warum? In welchem Milieu lebten sie sonst? Hatten sie eine Kultur und welcher Art war sie? Wie und warum übten sie ihre merkwürdigen Fähigkeiten aus? Das alles mußte schleunigst erfragt werden, denn woher sollte man wissen, ob nicht auch Sabeth eines Tages verschwinden würde oder vor Kummer sterben? Vielleicht bekam ihm auch das Klima auf die Dauer nicht und die Knechtsarbeit, die er auf dem Fortnerhof verrichtete. Ich wurde recht ärgerlich auf Fortners, daß sie sich so wenig um alles gekümmert hatten und daß man eigentlich in der wissenschaftlichen Durchforschung der Angelegenheit infolge ihrer Saumseligkeit noch ganz im Anfang war. Und wie gesagt, es konnte sein, daß es schon zu spät war. Die kleine Elisabeth hatte noch etwas berichtet, was mir in dieser Hinsicht zu denken gab und dem Gedächtnis Sabeths kein gutes Zeugnis ausstellte. Sie war einige Tage, nachdem die andern Raben verschwunden waren, mit Sabeth im Wald gewesen.

ELISABETH: Sabeth, ich möchte noch einmal fliegen.
SABETH:
Fliegen? Hast du Flügel?
ELISABETH:
Aber Sabeth! So wie wir schon einmal geflogen sind! Wir beide!
SABETH:
Wir beide? Davon weiß ich nichts.
ELISABETH:
Ich hielt mich an deinen Füßen fest und du flogst.
SABETH:
Ich flog? Das wäre sehr unvorsichtig. Wenn du nun losließest?
ELISABETH:
Ich lasse nicht los.
SABETH:
Du könntest schwindelig werden und nicht mehr wissen, was du tust. Nein, ich hätte Angst um dich.
ELISABETH:
Ach tu es, Sabeth! Es war so lustig, wie du meinen Namen in den Wald riefst, und als wir wieder zurückkamen, hörten wir das Echo.
SABETH:
Was erzählst du für merkwürdige Sachen!
ELISABETH:
Aber Sabeth! Tu nicht, als wüßtest du das nicht. Erinnerst du dich auch nicht, wie es so blau und dunkel war, daß es blendete?
SABETH:
Nein.
ELISABETH:
Daran denke ich oft. Ach tu es, Sabeth!
SABETH:
Wenn du durchaus willst.
ELISABETH:
Ich muß mich an deinen Füßen festhalten. So.
SABETH:
Und jetzt?
ELISABETH:
Jetzt mußt du "Elisabeth" in den Wald rufen. SABETH ruft: Elisabeth! Echo: Elisabeth!
ELISABETH:
Nein, du mußt gleich, wenn du gerufen hast, wegfliegen. Jetzt!
SABETH ruft: Elisabeth! In das Flügelrauschen hinein tönt das Echo: Elisabeth!
ELISABETH:
Das war nichts, aber flieg weiter!
SABETH:
Du bist mir schwer.
ELISABETH:
Flieg in die Finsternis, die blendet! Oh, Sabeth, wo ist sie?
SABETH:
Ich weiß nicht.
ELISABETH:
Ich habe Angst.
SABETH:
Ich auch. Warte, ja! fliege hier auf den Fichtenast. Greif ihn!
ELISABETH:
Ja, ich sitze.
SABETH:
Ich setze mich neben dich.
ELISABETH:
Oh, Sabeth, warum kommen wir nicht mehr höher hinauf?
SABETH:
Waren wir höher?
ELISABETH:
Es muß sehr hoch gewesen sein. Man sah keine Bäume mehr und keine Felder.
SABETH:
Ich weiß nichts davon.

LEHRERIN:
Vielleicht war es wirklich für manches schon zu spät. Anderseits war natürlich ein menschengroßer Rabe, der sprechen konnte, schon erstaunlich genug, auch wenn man über seine Herkunft nicht mehr viel erfahren konnte. Ich nahm mir vor, alles zu sammeln. Es bedeutete viel für mich, wenn ich die eigentliche Entdeckerin der merkwürdigen Erscheinungen auf dem Fortnerhof war. Ich würde meinen Bericht zuerst an eine illustrierte Zeitung geben, mein Name würde gedruckt werden. Der Bericht könnte Aufsehen erregen, mit einem Schlage wäre ich aus der Enge meiner Reiskirchner Umwelt herausgehoben und eine Persönlichkeit von allgemeinem Interesse. Aber konnte ich das alles allein erreichen? Sollte ich nicht vielleicht Herrn Eginhard Woturba, den Schulleiter, mit ins Vertrauen ziehen? Ach, seinetwegen wollte ich doch mehr sein als ich war, er sollte mich bemerken in der Menge, mich, die seit mehr als einem Jahr neben ihm lebte und die ihn weniger zu interessieren schien als ein ferner Kontinent. Natürlich brauchte ich ihn, vor allem wegen der Fotografien. Ich hatte keinen Apparat und verstand auch nichts davon. Zuerst freilich mußte ich noch soviel wie möglich selber erforschen, - ich mußte ihm von vornherein überlegen sein. Dann sollte er mitarbeiten, und es war schon oft geschehen, daß aus einer solch engen Zusammenarbeit mehr entstanden war. Gegen Mitternacht kehrte Woturba heim. Ich hörte seine Schritte. Mich floh der Schlaf noch immer. Schließlich stand ich auf und begann damit, alles aufzuschreiben, was ich heute erlebt und erfahren hatte. Es war auch richtig das zu tun, bevor ich mit Sabeth selbst sprechen würde. Das nahm ich mir für den nächsten Tag vor.


Fünftes Kapitel

GESPRÄCH MIT SABETH


LEHRERIN:
Offen gesagt habe ich mich in meinem Leben noch nie mit einem Raben unterhalten. Ich weiß infolgdessen nicht, ob ich Sie oder Du sagen muß.
SABETH:
Halten Sie es, wie Sie wollen.
LEHRERIN:
Ja, es ist vielleicht besser so. Mit Fortners stehen Sie ja schon länger in näheren Beziehungen, aber wir sind uns fremd. Außerdem sprechen Sie so vollkommen, daß ich immer denke, Sie wären ein verkleideter Mensch. Und kann man einen Menschen ohne weiteres duzen?
SABETH:
Wie ein verkleideter Mensch komme ich Ihnen vor?
LEHRERIN:
Ja.
SABETH:
So fühle ich mich auch.
LEHRERIN:
Sehen Sie, da sind wir schon bei dem, was ich Sie fragen wollte. Sie müssen entschuldigen, daß ich neugierig bin, aber es ist alles so merkwürdig, wenigstens im ersten Augenblick. Ich weiß auch nicht, ob Sie mir überhaupt antworten wollen.
SABETH:
Warum nicht? Ich habe keine Geheimnisse. Fragen Sie nur! Ich werde Ihnen ganz offen antworten und die Wahrheit sagen.
LEHRERIN:
Oh, das ist gut. So habe ich schon eine Sorge weniger. Hören Sie meine erste Frage: Von welcher Welt sind Sie gekommen?
SABETH:
Von welcher Welt? Das verstehe ich nicht.
LEHRERIN:
Nun, ich meine vom Mars oder von der Venus oder vom Mond?
SABETH:
Nein, von nirgends her. Das heißt, ich will nicht lügen. Vielleicht doch. Ich weiß es nicht.
LEHRERIN:
Sie wissen es nicht. Haben Sie es nie gewußt oder haben Sie es vergessen?
SABETH:
Auch das weiß ich nicht.
LEHRERIN:
Vielleicht haben Sie es nur vergessen. Können Sie nicht versuchen, sich zu erinnern?
SABETH:
Oh, ich versuche das alle Tage.
LEHRERIN:
Ohne Erfolg?
SABETH:
Ohne Erfolg.
LEHRERIN:
Vielleicht leiden Sie überhaupt unter Gedächtnisstörungen, wenn man es so nennen darf. Was meinen Sie, seit wann Sie es vergessen haben?
SABETH:
Ich weiß nicht, das heißt, ich glaube, seitdem mich die andern verlassen haben. Nein, das stimmt auch nicht. Ich glaube, es fing schon früher an.
LEHRERIN:
Aber wann?
SABETH:
Ich glaube, seitdem ich anfing zu sprechen.
LEHRERIN:
Ah!
SABETH:
Mit dem Augenblick, wo ich das erste Wort aussprach, begann ich ein Gedächtnis zu haben und zugleich zu vergessen. Zuerst nur langsam und nur Einzelnes. Aber als die andern fortflogen, vergaß ich alles.
LEHRERIN:
Sie sagen: Sie begannen, ein Gedächtnis zu haben, als Sie das erste Wort aussprachen. Vorher hatten Sie also kein Gedächtnis?
SABETH:
Nein, ich glaube nicht.
LEHRERIN:
Oh, das ist aber merkwürdig.
SABETH:
Ja, manchmal kommt es mir auch schon merkwürdig vor.
LEHRERIN:
Sie sagen: Als die andern fortflogen. Wissen Sie, daß sie fortgeflogen sind?
SABETH:
Sie haben recht. Ich habe mich ungenau ausgedrückt. Aber ich denke schon wie die Menschen und meine, wenn Raben verschwinden, müßten sie geflogen sein.
LEHRERIN Sie meinen, sie könnten ebenso gut gegangen sein?
SABETH:
Ja, das ist möglich.
LEHRERIN:
Aha.
SABETH:
Aber ich glaube es nicht.
LEHRERIN:
Warum glauben Sie es nicht?
SABETH:
Ich habe ganz andere Vorstellungen von den Raben.
LEHRERIN:
Aber wie sollte sich ein Rabe anders fortbewegen? Er kann nur fliegen oder gehen.
SABETH: Ja, das mag sein. Aber ich weiß nicht einmal genau, ob ich ein Rabe bin. Ich bin jetzt natürlich ich einer, aber ob ich einer war?
LEHRERIN:
Fortners haben Sie doch alle gesehen.
SABETH: Gewiß, gewiß. Aber vielleicht kamen wir den Menschen nur wie Raben vor. Vielleicht ist das die Gestalt, in der wir ihnen sichtbar werden können. Oder vielleicht ist es eine der Gestalten.
LEHRERIN:
Verzeihen Sie, jetzt bin ich ein bißchen verwirrt.
SABETH:
Sie dürfen das auch nicht so wichtig nehmen, war ich sage. Möglicherweise ist es alles falsch. Ich denke nur in letzter Zeit viel nach, weil sich mein Leben jetzt in der Dunkelheit abspie1t. Manchmal habe ich das Gefühl, daß sich die Dunkelheit für einen Augenblick erhellt. Manchmal, es ist allerdings selten.
LEHRERIN:
Und sind diese Augenblicke ganz zufällig?
SABETH:
Zufällig können sie nicht sein, wenn sie die Dunkelheit heller machen.
LEHRERIN:
Das ist alles nicht einfach für mich. Können Sie mir nicht ein Beispiel sagen?
SABETH:
Neulich zum Beispiel sah ich einen Baum.
LEHRERIN:
Ja und?
SABETH:
Da war es so.
LEHRERIN:
Wie? Daß sich die Dunkelheit erhellte?
SABETH: Ja.
LEHRERIN:
War etwas Besonderes an dem Baum?
SABETH:
Nein.
LEHRERIN:
War es eine Kiefer?
SABETH:
Eine Platane.
LEHRERIN:
Platanen sind hier nicht häufig.
SABETH:
Sie stehen als Chausseebäume an der Straße.
LEHRERIN:
Das ist wahr. Aber sagen Sie, was vor sich ging.
SABETH:
Nichts, oder auch sehr viel. Es durchfuhr mich wie ein Licht.
LEHRERIN:
Ja und?
SABETH:
Dann war es wieder weg. Es war ein jähes, großes Entzücken. Ich wußte alles.
LEHRERIN:
Ah - Sie wußten alles! Was wußten Sie?
SABETH:
Ich habe es im gleichen Augenblick vergessen.
LEHRERIN: Mein Gott, so kommen wir nicht weiter. Ich bin durcheinander. Was wollte ich Sie noch fragen? Ja, - Sie meinen also, die Raben kämen nicht wieder?
SABETH:
Ich weiß es nicht. Ich weiß ja nicht einmal, ob sie fort sind. Aber daß ich es nicht weiß, das ist eigentlich das Zeichen, daß ich sie nicht wiedersehen werde.
LEHRERIN:
Was ist denn jetzt anders als vorher?
SABETH:
Daß ich sterben werde.
LEHRERIN:
Daß Sie sterben? Waren Sie vorher unsterblich?
SABETH:
Ich weiß es nicht. Ich habe das so herausgesagt, es kam mir sofort auf die Zunge. Aber wenn es mir so auffällt an meinem jetzigen Leben, dann war ich vielleicht früher wirklich unsterblich. Oh - ich muß darüber nachdenken.
LEHRERIN:
Ja, denken Sie darüber nach. Vielleicht fällt es Ihnen bis morgen ein.
SABETH: Ich weiß nicht, ob einem die Unsterblichkeit bis morgen einfallen kann. Zudem macht mir das Nachdenken traurig.
LEHRERIN:
Weil Sie bemerken, daß Sie kein Rabe mehr sind?
SABETH:
Ja, ich bin nicht mehr, was ich bin. Ihr habt es gut.
LEHRERIN:
Oh, ich verstehe, daß Sie traurig sind.
SABETH:
Sagen Sie es Elisabeth nicht, daß ich traurig bin. Ich bemühe mich, es ihr nicht zu zeigen. Ich möchte gern, daß sie immer lacht. Aber ach - sie hat es gewiß längst bemerkt.
LEHRERIN:
Nach diesem Gespräch wurde es mir klar, daß ich es allein nicht schaffen konnte. Dann aber bewog mich auch das Gefühl, es sei mit den Fotografien eilig, Woturba sogleich ins Vertrauen zu ziehen. Als ich ihm am nächsten Tage erzählte, worum es sich handelte, sah ich ihm an, daß er mich für irre hielt. Glücklicherweise hatte er die übliche Ansicht, nämlich die, daß man einem Irren nicht widersprechen solle, um keinen Anfall hervorzurufen. So versprach er mir in nachgiebigster Weise, mich zum Fortnerhof zu begleiten, den Fotoapparat mitzunehmen und Aufnahmen zu machen. Er wollte mir auch bei meinen Aufzeichnungen behilflich sein und nahm zunächst einmal das mit, was ich schon geschrieben hatte. Er wollte es, wie er sagte, vorm Einschlafen lesen. Mir war es recht, daß er sich vorm Einschlafen mit mir beschäftigen wollte. Besser, er hielt mich für wahnsinnig, als daß er mich übersah. Er würde seine Meinung ohnehin ändern müssen.


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